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GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Telemedizin: Ja, aber!

Mitteilung

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GMS Mitt AWMF 2016;13:Doc2

doi: 10.3205/awmf000314, urn:nbn:de:0183-awmf0003146

Received: February 24, 2016
Published: February 24, 2016

© 2016 Sailer et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Kritische Anmerkungen zu den „Hinweisen zur Fernbehandlung“ der AG Telemedizin der Bundesärztekammer

Das Stichwort Telemedizin steht wie kaum ein anderes für Innovationen im Gesundheitswesen und medizinisch-technischen Fortschritt. Telemedizin soll Expertenstandard in der Fläche garantieren, für einen schnellen Datenverkehr zwischen Ärzten und Leistungserbringern sorgen und Zweitmeinungsverfahren etablieren. Auch im gerade in Kraft getretenen E-Health Gesetz ist die Förderung der Telemedizin verankert. In vielen Bereichen stellt die Telemedizin – insbesondere im bereits etablierten Bereich der Teleradiologie – eine sinnvolle Errungenschaft dar, die einen spürbaren Nutzen für die Gesundheitsversorgung hat. Bei allem Enthusiasmus darf die Telemedizin allerdings nicht dazu führen, dass das bestehende hohe Versorgungsniveau eingeschränkt und die Telemedizin auf Kosten der Patientensicherheit durchgesetzt wird.


Text

A und O jeder ärztlichen Behandlung ist der individuelle persönliche Patientenkontakt. Die „Hinweise zur Fernbehandlung“ der AG Telemedizin der Bundesärztekammer (Deutsches Ärzteblatt vom 11.01.2016 und die „Hinweise und Erläuterungen zu § 7 Abs. 4 MBO-Ä (Fernbehandlung)“ vom 11.12.2015) lassen befürchten, dass die vielerorts vorherrschende Begeisterung für telemedizinische Verfahren die Sicherung der Behandlungsqualität überlagert. Beim Einsatz telemedizinischer Behandlungsoptionen ist daher immer die Prüfung geboten, ob die dem Patienten zustehende Qualität der Behandlung gerade auch durch den Einsatz der Telemedizin gewährleistet wird. Angesichts der derzeit noch bestehenden restriktiven berufsrechtlichen Vorgaben muss beim Einsatz telemedizinischer Verfahren daher immer eine Abwägung der beteiligten Interessen erfolgen und das Wohl des Patienten im Vordergrund stehen.

1. Telemedizin und Fernbehandlung

Die Telemedizin ist untrennbar mit dem berufsrechtlichen, in § 7 Abs. 4 MBO-Ä niedergelegten und in den Landesberufsordnungen umgesetzten sogenannten Fernbehandlungsverbot verbunden. Nach § 7 Abs. 4 MBO-Ä dürfen

„Ärztinnen und Ärzte (…) individuelle ärztliche Behandlung, insbesondere auch Beratung, nicht ausschließlich über Print- und Kommunikationsmedien durchführen. Auch bei telemedizinischen Verfahren ist zu gewährleisten, dass eine Ärztin oder ein Arzt die Patientin oder den Patienten unmittelbar behandelt.“


Übereinstimmend wird diese Vorschrift so ausgelegt, dass eine individuelle Behandlung – im Gegensatz zu allgemeinen, vom medizinischen Einzelfall losgelösten und unverbindlichen medizinischen Erörterungen - zwingend einen Arzt-Patienten-Kontakt „mit allen fünf Sinnen“ erfordert, d. h., der Patient muss sich beim Arzt persönlich vorstellen. Eine ausschließliche Beratung über Telekommunikationsmittel ist daher nach allgemeiner Auffassung nicht zulässig. Schwieriger ist die Frage der Vereinbarkeit mit der Berufsordnung zu beantworten, wenn neben dem behandelnden Arzt ein oder mehrere weitere Ärzte via Telemedizin in irgendeiner Form in die Behandlung involviert werden sollen. Es bestehen Überlegungen und bereits Modelle, bei denen der behandelnde Hausarzt einen HNO- oder Kardiologie-Facharzt live der Behandlung zuschaltet und sich von diesem Diagnosen bestätigen, Therapieempfehlungen aussprechen oder das Endoskop durch Ansagen „steuern“ lässt. Die zu klärende Frage lautet: Reicht es in diesem Fall aus, wenn sich der Patient persönlich nur bei seinem Hausarzt vorstellt oder ist auch eine Untersuchung „mit allen fünf Sinnen“ durch den hinzugezogenen Facharzt erforderlich?

Nach Auffassung der AG Telemedizin der Bundesärztekammer ist die Antwort einfach: So soll es für den in § 7 Abs. 4 MBO-Ä geforderten Arzt-Patienten-Kontakt ausreichen, wenn sich der Patient bei seinem Hausarzt vorstellt, dieser ihn also primär behandelt. Wird dann via Telemedizin ein Facharzt eines anderen Fachgebietes hinzugezogen, soll ein unmittelbarer persönlicher Arzt-Patienten-Kontakt mit diesem hinzugezogenen Arzt nicht erforderlich sein. Die Begründung: „Der Konsiliarius wird dabei grundsätzlich nicht zum (mit-) behandelnden Arzt“. Die Empfehlungen des Konsiliararztes würden durch denjenigen Arzt vermittelt, der mit dem Patienten in unmittelbarem Kontakt stehe. Nach Auffassung der Bundesärztekammer trägt daher in jedem Fall der Hausarzt die volle medizinische Verantwortung für fachfremde Therapieempfehlungen eines anderen Arztes, die er dem Patienten vor Ort übermittelt.

2. Konsil ist nicht gleich Konsil

Bei dieser Betrachtungsweise wird übersehen, dass hinzugezogene „Konsiliarärzte“ in der Regel von der (Mit-) Behandlung des Patienten gerade nicht ausgeschlossen sind. Die Grundannahme der AG Telemedizin der Bundesärztekammer, dass der Konsiliarius grundsätzlich nicht zum (mit-) behandelnden Arzt wird, ist daher falsch! Das Gegenteil dürfte vielmehr in der Regel der Fall sein.

Der Begriff des Konsiliararztes ist nicht einheitlich gesetzlich definiert. Nach § 29 Abs. 7 Ziffer 2 des Bundesmantelvertrages-Ärzte erfolgt eine Konsiliaruntersuchung ausschließlich zur Erbringung diagnostischer Leistungen. Im Übrigen ist die Konsiliararzttätigkeit Gegenstand der Abrechnungsziffer 60 der ärztlichen Gebührenordnung (GOÄ). Abrechnungsvoraussetzung ist dabei zwingend, dass auch der Konsiliarius einen unmittelbaren persönlichen Kontakt zum Patienten hergestellt hat.

Mangels einer verbindlichen Definition fallen unter den Begriff „Konsiliararzt“ daher landläufig all diejenigen Konstellationen und Kooperationen, bei welchen zu einem bestehenden Behandlungsverhältnis ein externer bzw. weiterer Arzt in irgendeiner Form hinzugezogen wird. Hinter manchem „Konsiliararztvertrag“ verbirgt sich bisweilen auch ein (unzulässiger) Honorararztvertrag oder die Einschaltung eines niedergelassenen Arztes in die sogenannte Wahlarztkette. Als „Konsiliararzt“ bezeichnet auch die Bundesärztekammer jeden Arzt, der irgendeinen Beitrag zur Behandlung eines anderen Arztes leistet, wobei dieser Beitrag „von geringem bzw. kaum nachweisbarem Einfluss auf die weitere Versorgung bis zur Übernahme der ´Herrschaft des Behandlungsgeschehens´ möglich“ sein soll. Bereits hieraus wird deutlich, dass ein Arzt nicht aufgrund seiner Bezeichnung zum Konsiliararzt wird. Es ist vielmehr entscheidend, welche Leistungen er im Einzelfall tatsächlich erbracht hat.

3. Telemedizin und Mitbehandlung

Geht man davon aus, dass Konsiliarärzte einen derartigen Einfluss auf die weitere Versorgung des Patienten haben, dass von einer „Herrschaft des Behandlungsgeschehens“ gesprochen wird, kann in diesen Fällen eine echte (Mit-) Behandlung nicht in Abrede gestellt werden.

Beim Telekonsil gilt daher als Faustregel: Soll der externe Arzt eine „Kompetenzlücke“ des behandelnden Arztes vor Ort füllen – etwa aufgrund mangelnden Spezialwissens oder weil der behandelnde Arzt vor Ort aus einem anderen Fachgebiet stammt – liegt eine Mitbehandlung des externen Arztes vor, da dieser tatsächlichen Einfluss auf das Behandlungsgeschehen und die Entscheidung des behandelnden Arztes nimmt. Solange hierbei keine auch für den Hausarzt erkennbare Fehler des externen Spezialisten vorliegen, kann sich der behandelnde fachfremde Arzt vor Ort grundsätzlich auf die Meinung des Experten verlassen (Vertrauensgrundsatz bzw. Grundsatz der horizontalen Arbeitsteilung).

Der HNO-Arzt oder der Kardiologe, der via Telemedizin eine Diagnose stellt und eine Therapieentscheidungen trifft, die mangels Fachwissens vom Hausarzt weder verifiziert noch in Zweifel gezogen werden können, ist daher an der Behandlung des Patienten nach dem Begriff der Heilkundeausübung des § 1 Heilpraktikergesetz unmittelbar zumindest im Sinne einer Mitbehandlung beteiligt. Eine solch wegweisende Beeinflussung des Behandlungsgeschehens darf der extern hinzugezogene Experte nach den berufsrechtlichen Maßgaben des Fernbehandlungsverbotes aber immer nur dann abgeben, wenn er den Patienten selbst unmittelbar zuvor gesehen bzw. untersucht hat. Anderenfalls ist der fachärztliche Standard nicht gewahrt und das derzeit noch in § 7 Abs. 4 MBO-Ä verankerte Fernbehandlungsverbot verletzt.

Etwas anderes gilt nur dann, wenn sich zwei Ärzte desselben Fachgebiets untereinander telemedizinisch abstimmen, ohne dass der externe Arzt Einfluss auf die Entscheidung des behandelnden Arztes nimmt oder selbst in die Behandlung eingreift. Zieht der behandelnde Arzt einen externen Arzt, etwa aufgrund von dessen Expertenwissen, telekonsiliarisch zu Rate, um sich nach vorangegangener Untersuchung und Diagnosestellung ergänzend zu beraten und eine Therapie festzulegen, liegt die Verantwortung für die Behandlung und damit die Haftung in der Regel allein bei dem vor Ort behandelnden Arzt. Die Mitwirkung des hinzugezogenen Experten beschränkt sich in diesen Fällen zumeist auf die Beratungsleistung im Verhältnis zum behandelnden Arzt, die keinen unmittelbaren Einfluss auf die Behandlung ausübt, so dass kein Behandlungsverhältnis zwischen hinzugezogenem Arzt und Patient entsteht.

4. Zweck des Fernbehandlungsverbots des § 7 Abs. 4 MBO-Ä

Wie die Bundesärztekammer in ihren Hinweisen und Erläuterungen zu § 7 Abs. 4 MBO-Ä zutreffend feststellt, ist Sinn und Zweck der Regelung, dass sich der behandelnde Arzt von dem jeweiligen Patienten ein unmittelbares Bild durch die eigene Wahrnehmung verschafft und sich nicht allein auf Schilderungen des Patienten oder Informationen Dritter verlassen soll. Dabei ist die Wahrnehmung durch alle fünf Sinne gemeint. Zweifel an der Einhaltung dieses ärztlich-ethischen Grundsatzes bestehen daher, wenn der telemedizinisch hinzugezogene Experte den Patienten nicht selbst (unmittelbar) sieht, sondern lediglich Informationen von einem Hausarzt erhält oder den Patienten über einen Bildschirm sieht, der nur eine sehr eingeschränkte Sinneswahrnehmung erlaubt. § 7 Abs. 4 MBO-Ä darf daher nicht in dem Sinne verstanden werden, dass irgendein Arzt den Patientenkontakt herstellt. Der Facharztstandard und das Fernbehandlungsverbot gebieten es, dass derjenige Arzt, in dessen Fachbereich die Behandlung fällt und der Diagnose und Therapieplan festlegt, den Patienten unmittelbar selbst sieht, da nur dieser über das Spezialwissen und die fachliche Erfahrung verfügt, um beurteilen zu können, auf welche individuellen Gesamtumstände des Patienten zu achten ist, ob Kontraindikationen, Komorbiditäten u.a.m. vorliegen.

5. Schlussfolgerungen

Damit ist festzuhalten, dass die Erläuterungen der Bundesärztekammer zum Fernbehandlungsverbot nicht ausreichend berücksichtigen, dass in der ganz überwiegenden Anzahl der Fälle Ärzte anderer Fachrichtungen telemedizinisch gerade deshalb hinzugezogen werden sollen, um vor Ort fehlendes Expertenwissen und fehlende fachliche Fertigkeiten zu ersetzen. Gerade hier hat der bei der Behandlung unabdingbare Grundsatz, dass der Arzt den Patienten selbst gesehen haben muss, besondere Bedeutung und darf nicht übergangen werden. Telemedizin soll das bestehende hohe Niveau der Gesundheitsversorgung in Deutschland sinnvoll ergänzen, darf aber nicht dazu führen, dass der fachliche Standard beschränkt oder unterschritten wird. Telemedizinische Verfahren, bei denen die Einflussnahme des telemedizinisch hinzugezogenen Facharztes so groß ist, dass dieser das Behandlungsgeschehen beherrscht und der vor Ort behandelnde Hausarzt tatsächlich nicht über die gleichwertigen Fachkenntnisse verfügt, stehen nach hiesiger Auffassung daher mit den derzeit noch geltenden berufsrechtlichen Maßgaben des Fernbehandlungsverbotes nicht in Einklang. Solche telemedizinischen Verfahren sind zudem aus Haftungs- und Patientenschutzgründen abzulehnen.

Sollte die berufs- und gesellschaftspolitische Diskussion zukünftig das derzeit noch bestehende Fernbehandlungsverbot für überholt bzw. überflüssig halten oder jedenfalls modifizieren, könnte man über eine Ausweitung telemedizinischer Behandlungsverfahren nachdenken. Dabei muss aber letztlich jeder verantwortlich behandelnde Arzt aus seiner Perspektive unter Berücksichtigung aller Umstände des einzelnen Behandlungsfalles die Gewähr dafür übernehmen, dass der Einsatz telemedizinischer Verfahren nicht zum Nachteil des Patienten gereichen darf.